Wie Jakob die Zeit verlor

von Jan Stressenreuter

Klappentext:
Als sich Jakob und Marius in den achtziger Jahren ineinander verlieben, regiert in Deutschland gerade viel belächelt Helmut Kohl; in der Sowjetunion versucht Michail Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost einen politischen Wandel herbeizuführen.In der schwulen Szene dagegen ist dies die Zeit der schnauzbärtigen Ledermänner, von Frankie Goes to Hollywood und ungehemmter Promiskuität, bis plötzlich und unerwartet eine tödliche Epidemie alles ändert – Aids. Mehr als zwanzig Jahre später droht Jakobs Beziehung zu seinem Freund Arne zu scheitern: Nach einem Streit, in dem Arne Jakob vorwirft, den Tod von Marius nicht verarbeitet zu haben, verlässt er die gemeinsame Wohnung und verschwindet aus Jakobs Leben. Also begibt sich Jakob auf Spurensuche. Unerwartete Hilfe bekommt er dabei von dem 23-jährigen Philip, der ihm zeigt, dass man im neuen Jahrtausend auch anders mit einem positiven Testergebnis umgehen kann. In seinem neuen Roman Wie Jakob die Zeit verlor erzählt Stressenreuter eine Liebesgeschichte aus einer Zeit, deren Schrecken lange tabuisiert worden sind – schonungslos, ehrlich und außerordentlich berührend.

Bild: © Buchsüchtig
Cover: © Querverlag | Jan Stressenreuter

Meine Meinung:
Ich habe die Sprache und Ausdrucksweise Jan Stressenreuters schon in „Haus voller Wolken“ geliebt und auch in diesem Buch, nahmen mich seine Worte schon auf den ersten Seiten wieder gefangen. Seine Protagonisten sind keine kleinen verschreckten Jungs die nicht wissen was sie wollen, sondern Männer die das Schicksal teilweise auf eine harte Probe stellt und die sich menschlich und normal verhalten. Sie sind nicht fehlerfrei und langweilig perfekt, vielmehr hatte ich bei ihnen das Gefühl, sie mit jeder Seite besser kennenzulernen und mich in ihrer Geschichte zu verlieren. Was dabei eine große Rolle spielte, und das Ganze sehr positiv unterstützte, waren die Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, in denen die Geschichte erzählt wird. Jakob denkt sehr oft an die Vergangenheit, seine Zeit mit Marius und an Begebenheiten ihrer Beziehung zu einer Zeit, in der alles im Umbruch begriffen war und Unwissenheit zusammen mit Vorurteilen den Menschen das Leben schwer machten. Was auch nicht verwunderlich war, da er mit seiner Vergangenheit noch keinen Frieden geschlossen hatte und sie somit einen großen Einfluss auf die Gegenwart ausübte.

Es gab Szenen zwischen Marius und Jakob, die von einer schier unüberwindlichen Hilflosigkeit geprägt waren. Ein Gespräch mit einem Arzt, das ein ungutes Gefühl zurückließ, obwohl es generell gut verlief, beispielsweise. Am Anfang der Pandemie war die medizinische Versorgung noch denkbar schlecht und die Aufklärung sogar noch schlechter. Dazu noch die Stigmatisierung und die Vorurteile. Ich konnte Marius somit absolut verstehen, dass er erstmal dicht machte und von einer Therapie nichts wissen wollte. Zumal es keine Chance auf Heilung gab und selbst die Ärzte nichts genaues wussten. Es gab eine Szene, in der zu einer Einladung zum Kaffee eigenes Geschirr mitgebracht wurde, weil man nicht wusste, inwieweit das Virus übertragbar ist und ob nicht doch die Möglichkeit einer Infektion besteht, wenn man sich einen Teller teilt. Wie furchtbar und grausam muss diese permanente Angst sein? Diese andauernde Furcht davor jemanden zu infizieren und dabei so wenig über das Virus und die Krankheit an sich zu wissen, muss unglaublich an den Nerven zerren.

Bei einem Gespräch zwischen Kathrin, Jakob und Marius machen sie sich über die Vorstellung der „Homo – Ehe“ (Nicht meine Wortwahl! Ehe ist Ehe, egal wer sich da liebt.), der gesellschaftlichen Gleichstellung, ein Anti – Diskriminierungsgesetz, ein Recht auf Adoption und das Ehegattensplitting lustig. Alles Dinge, die für viele Menschen selbstverständlich sind und die anderen Menschen vorenthalten wurden und werden, nur weil sie eben nicht einen Menschen des anderen Geschlechts lieben. In meinen Augen ist das krank. Liebe ist Liebe und jede Liebe hat den gleichen Wert. Aber ich schweife mal wieder ab. Das gesamte Buch hat mich sehr mitgenommen, da ich ein enormes Problem mit Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung habe. Hier wurde gezeigt, wie engstirnig manche Menschen denken und handeln. Aber es gab auch wunderschöne Momente die zeigten, wie wundervoll die Liebe zweier Menschen sein kann. Wie stark Menschen sein können, selbst wenn sie ihr Todesurteil in den Händen halten und nicht wissen, was die Zukunft bringt. Manch einer gibt sich auf und andere machen weiter, schmieden Pläne für die Zukunft und lassen sich aufgrund einer schrecklichen Diagnose nicht schon vor dem Tod ihr Leben nehmen.

Auf der anderen Seite gab es aber auch Szenen, die mich aufgrund der Handlungsweise der Protagonisten wütend machten. Meiner Meinung nach verändern sich Beziehungen im Laufe der Jahre und nicht alles, was man einmal als selbstverständlich angesehen hat, muss für immer und ewig Bestand haben. Manche Dinge können sich entwickeln, müssen es sogar um die Menschen weiterhin glücklich zu machen und man darf diese Entwicklungen annehmen und als Chance betrachten. Hier wurde sich damit schwer getan. Was ich zwar irgendwo nachvollziehen, nicht aber gutheißen kann. Aber auch das zeigte einmal mehr, wie nah am Leben Jan Stressenreuter’s Buch ist. Und dafür liebe ich jedes seiner Worte. Kein erhobener Zeigefinger, keine Moralkeule. Einfach nur Menschen, die sich Situationen gegenüber sehen, die zuviel von ihnen verlangen und mich damit emotional völlig in ihrem „Leben“ gefangen nahmen. Schon bei „Haus voller Wolken“ habe ich geheult und konnte es auch Tage später nicht vergessen. „Wie Jakob die Zeit verlor“ hatte genau den gleichen Effekt auf mich. Wie hätte ich mich in dieser Situation verhalten? Ich weiß es nicht. Jan Stressenreuter hat es wieder einmal geschafft, dass ich nachgedacht habe und dass ich unendlich dankbar dafür bin, dass meine Lieben und ich gesund sind.

Wer „Haus voller Wolken“ gerne gelesen hat, dem kann ich auch „Wie Jakob die Zeit verlor“ uneingeschränkt empfehlen. Und auch wenn man Jan Stressenreuter noch nicht kennt, ist dieses Buch eine perfekte Möglichkeit um ihn kennenzulernen. Ich würde immer zu diesem Buch raten wenn eine Geschichte gesucht wird, die echt ist, keine kleinen verschreckten Jungs mit Pseudoproblemchen enthält, sondern die sich unmerklich unter die Haut schleicht und sich dort einnistet, festfrisst und bleibt. Ein ganz wundervolles Buch in dem es um so viel mehr geht, als nur um das, was man liest. Viel wichtiger sind die eigenen Gedanken dabei und die vielen unausgesprochenen Worte, die zwischen den Zeilen stehen.

Das Buch, die Geschichte, die Schicksale haben etwas mit mir gemacht. Ich habe sehr viel nachgedacht während des Lesens. Manchmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich nicht mehr die Worte gelesen habe die dort standen, sondern meinen eigenen Gedanken nachhing und mir Lösungen für die zuvor gelesenen Probleme überlegte. Ich war sehr zwischen den Seiten gefangen, versunken in der Geschichte und gebannt von den Worten des Autors. Es ist definitiv ein Buch, welches ich im Gedächtnis behalten werde und welches einen besonderen Platz unter den Büchern einnimmt, die ich für wichtig halte. Wer eine hochemotionale Geschichte sucht, die frei von Kitsch und Sentimentalität ist, dafür aber angefüllt mit Gefühlen und Gedanken, die man einfach zulassen muss, der findet sie in diesem Buch. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung. Ich bin dankbar für dieses Buch, und dass ich die Geschichte von Marius und Jakob lesen durfte. Ich habe mich nur zögerlich und sehr ungern von ihnen getrennt.

Erscheinungsdatum: 1. März 2013
Seitenzahl Taschenbuch: 250