Weil wir hier sind

von Jan Stressenreuter

Klappentext:
Das Zeitalter der Demokratie neigt sich dem Ende zu. Drei Diktaturen haben die Welt unter sich aufgeteilt: Das Pan-Arabische Kalifat, die Russische Patriotische Föderation und die Republik Elysium – Erbe der untergegangenen Vereinigten Staaten von Amerika. Als Lesben und Schwule dem »Verschwinden« anheimfallen, einer seltsamen körperlichen Veränderung, sind sie willkürlicher Verfolgung hilflos ausgesetzt.

Mit einigen anderen kann sich Luis auf eine abgelegene Insel retten, wo sie ein Leben im Verborgenen führen. Doch dann spült das Meer eines Tages einen Schiffbrüchigen ans Ufer, zusammen mit einem Schimpansen und einer Locke von Edgar Allan Poe – und Luis’ Vergangenheit droht, aufgedeckt zu werden.

Jan Stressenreuters neuer Roman Weil wir hier sind beschwört eine düstere Welt herauf, in der die Kräfte des Populismus und Fundamentalismus gesiegt haben und die Akzeptanz alternativer Lebensentwürfe nur noch eine blasse Erinnerung ist. Ein Roman voller Schmerz, Verzweiflung und Zorn. Er wird jedem in Erinnerung bleiben, der ihn liest.

Cover: © Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Fotolia/Adobe (©Fotoeventis)
Bild: © Buchsüchtig

Meine Meinung:
Nicht einfach nur düster zeigte sich die in diesem Buch beschriebene Welt auf den ersten Seiten, sondern tiefschwarz. So schwarz, dunkel, kalt und hoffnungslos, dass es mir das Herz zerriss, die Luft abschnürte und ich kaum weiterlesen konnte. Wenn ich all das dort beschriebene Grauen nicht für möglich halten würde, wenn ich nicht wüsste wozu Menschen in ihrer Verblendung fähig sind, wäre es nicht so erschütternd gewesen. Aber ich traue Menschen alles zu und halte es für möglich, dass es irgendwann genau so werden kann. „Ein Roman voller Schmerz, Verzweiflung und Zorn“ steht im Klappentext und genau das bot Jan Stressenreuter schon auf den ersten Seiten. Man wird hineingeworfen in eine dystopische Zukunftsvision, die keinen Raum für Freiheit, Selbstbestimmung, Unversehrtheit und Liebe lässt. Kalt, brutal und menschenverachtend zeigte sich was geschehen kann, wenn niemand kämpft, niemand für das Gute einsteht und dem Hass freie Hand gelassen wird.

Zu Beginn lernte ich langsam Luis kennen, der mir sofort sympathisch war. Und auch Lena mochte ich mit ihrer forschen Art bei der ich glaubte, dass sie damit ihr zerbrechliches Inneres schützt. Immer wieder erhält man in diesem Buch Einblicke in die Zeit vor der eigentlichen Handlung und kann so erkennen, wie langsam ein faschistischer Staat erschaffen wurde, der mich an die Zeit des Nationalsozialismus erinnerte. Freie Gedanken werden verboten, Schriften, die sich positiv mit der Gleichstellung von Männern und Frauen beschäftigen, Schriften, die sich mit der demokratischen Staatsform beschäftigen, selbst Schriften, die die Evolutionstheorie behandeln, alles verboten, verfolgt, verurteilt… Bestraft… Und doch gibt es mit den wenigen Freien, zu denen auch Luis gehört, einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Funken Hoffnung. Eine mikroskopische Flamme, die zu einem Flächenbrand werden könnte, wenn nur genug brennbares Material vorhanden wäre… Aber beschäftigen sich Menschen die um ihr Überleben kämpfen, ständig Angst vor Entdeckung haben und deren Hoffnung schwindet, mit dem „Danach“? Unwahrscheinlich. In einer solchen Situation lebt man von Minute zu Minute. Von einer Mahlzeit zur anderen. Von einem warmen Feuer zum nächsten. Man verkümmert, stumpft ab, und irgendwann sind sicher auch die angestrebten Ideale nur noch Schatten aus der Vergangenheit, für deren Realisierung die Kraft fehlt.

Die Gesetze die für Homosexuelle gelten ähneln denen, die den Juden im Dritten Reich aufgezwungen wurden, auf schreckliche Art und Weise. Und selbst auf die heutige Zeit kann man die Gräul aus dieser Geschichte anwenden und Parallelen entdecken. Jans Worte und die mit diesen erschaffenen Szenarien sind erschreckend und ich habe zu jeder Zeit mit dem Schlimmsten gerechnet.

Eigenwilligerweise war es aber gerade diese düstere Zukunft, die mich auch hoffen ließ, denn auch wenn alle Menschen in diesem Buch unter großer Anspannung leben, so gab es doch immer auch etwas Hoffnung. Hätten sie keine Hoffnung gehabt, hätten sie ihre Insel verlassen und nicht an einer besseren Zukunft gearbeitet.

So aber organisierten sie sich und lebten zwar von einem Tag zum anderen, gaben aber niemals auf und kämpften auf ihre Art weiter für eine lebenswerte Zukunft, für ihr Überleben und jedes noch so kleine Stückchen Glück.

Und auch Luis bildet da keine Ausnahme, wobei er zwischen seiner Vergangenheit und einer möglichen Zukunft gefangen ist und sehr mit sich und seinem Gewissen zu kämpfen hat.

Im Verlauf der Geschichte lernte ich alle Protagonisten und Protagonistinnen sehr gut kennen, denn ihnen wurde Zeit gegeben sich und ihre Vergangenheit zu erklären und so blieb mir keiner fremd und ich schloss sie alle auf die eine oder andere Weise in mein Herz.

Vieles, dass ihnen widerfahren ist, hat mich schockiert, traurig oder wütend gemacht und absolut keine Erzählung war mir gleichgültig, denn dafür waren mir die Erzählenden zu nah. Ich empfand es als faszinierend, wie Jan Stressenreuter es schaffte, jedem ein Gesicht und Raum zu geben und sie menschlich nachvollziehbar handeln zu lassen. Sie sind nicht perfekt und nicht grundsympathisch. Vielmehr sind sie so gezeichnet, dass ich beim Lesen beinahe das Gefühl hatte sie „wiederzusehen“. So, als wenn ich sie schon kennen würde und nun nach langer Zeit wieder etwas von ihnen hören würde. Und ich habe um jede*n Einzelne*n gebangt.

Für mich ist das Buch eine „Was-wäre-wenn“-Geschichte die aufzeigt, wie unendlich fragil unsere Privilegien sind und wie schnell sich alles ändern kann. Nichts ist sicher und nichts ist von Dauer. Und gerade deshalb ist dieses Buch für mich absolut zeitlos, denn es könnte in jedem Zeitalter spielen, an jedem Ort auf dieser Welt. An manchen Orten wäre es eine Dystopie. An einigen Orten sind die dort beschriebenen Ereignisse grausame Realität… Dieses Buch ist nichts für diejenigen, die eine heile Welt brauchen. Es ist für die, die nachdenken möchten. Über das hier und jetzt, über das gestern und über das morgen. Es ist unendlich intensiv, düster und doch voller Hoffnung. Traurig und doch mit winzig kleinen hell strahlenden Momenten gespickt. Es nagt am Lesenden und man ist gezwungen Partei zu ergreifen, nachzudenken, sich selbst zu hinterfragen und zu reflektieren. Das ein Buch solche Dinge schafft, ist sehr selten und unendlich kostbar.

Es gibt Szenen in diesem Buch, die für mich nur sehr schwer zu ertragen waren. Szenen, in denen ein Grauen, eine Brutalität beschrieben wurden, die alles menschenverachtende symbolisierten, zu denen Menschen fähig sind. Gewalt, körperlich wie psychisch bahnt sich ihren zerstörerischen Weg und lässt nichts als verbrannte Erde, Hoffnungslosigkeit, Schmerz und Verzweiflung zurück. Und auch, wenn all dies in der Vergangenheit lag war gerade deshalb so erschreckend, weil es eine ohnmächtige Wut hinterließ. Nichts davon könnte noch ungeschehen gemacht werden, nichts konnte aufgehalten werden. Es begann im Kleinen und wuchs an zu einer übermächtigen Kraft, die sich weder aufhalten noch auslöschen ließ. Und das Schlimmste daran war die Allgegenwärtigkeit. Es gibt kein Entrinnen, keinen Schutz, keine Möglichkeit der Stigmatisierung zu entgehen und sie zu verstecken. Und das Schlimmste ist, dass es jederzeit wieder soweit kommen kann, wenn die Menschen nicht endlich anfangen zu lernen, zu lieben und friedlich miteinander zu leben. All die in diesem Buch beschriebenen Dinge gab es schon und sie hinterließen nichts als Chaos, Angst, Wut, Verzweiflung und Resignation. Mir schnürte es die Luft ab, als ich las was mit John geschah. Als ich las, was mit so unendlich vielen Menschen geschah und wie sich Luis Rolle in diesem ganzen brutalen Chaos gestaltete. Und mir wurde einmal mehr bewusst, dass man nie aufhören darf zu kämpfen. Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit. All diese Dinge sind Geschenke, die man niemals als selbstverständlich hinnehmen darf, auch wenn sie selbstverständlich sein sollten.

Mich hat das Buch nachhaltig beeindruckt und ich empfehle es sehr gerne weiter. Es klang wie eine Warnung und zugleich wie ein Appell an die Vernunft. Man darf niemals aufgeben und niemals die Augen verschließen, denn dadurch wird Mächten und Ideologien Raum gegeben, die in dieser Welt keinen Platz haben.

Erscheinungsdatum: 1. März 2019 im Querverlag Berlin
Seitenzahl Taschenbuch: 416