Mit seinen Augen

von Jan Stressenreuter

Klappentext:
Felix findet auf dem Dachboden seines Elternhauses eine geheimnisvolle Truhe. Eine Truhe, deren Inhalt aus alten Fotos, Briefen und Tagebüchern besteht, die sein schon früh ums Leben gekommener Vater zurückgelassen hat. Die Dokumente entführen ihn in die Zeit vor seiner Geburt, in die spießigen 50er Jahre, und sie geben ein Geheimnis preis, mit dem Felix nicht gerechnet hat: sein Vater hatte eine Liebesbeziehung zu einem anderen Mann.

Bild: © Buchsüchtig
Buchcover: © Quer Verlag | Jan Stressenreuter

Meine Meinung:
Bücher von Jan Stressenreuter kaufe ich seit „Haus voller Wolken“ blind und vorbehaltlos. Ich liebe seine Sprache, seine Beschreibungen der Gedanken und Zwiegespräche seiner Protagonisten sind so natürlich, bildhaft und real, dass ich mich ihnen weder entziehen kann, noch es will. „Mit seinen Augen“ ist das dritte Buch des Autors welches ich gelesen habe und wieder zog es mich von der ersten Seite, von der ersten Zeile an, völlig in die Geschichte.

Der Erzählende Felix war mir sofort nah und ich habe mich mit ihm wohlgefühlt, ihn verstanden und konnte seinen Gedanken nicht nur folgen, sondern sie nachvollziehen und weiterdenken. Wie Jan Stressenreuter es immer wieder schafft mich mit wenigen Worten einzuweben und nicht wieder loszulassen, bis ich auch das letzte Wort verschlungen habe, bleibt mir ein Rätsel. Seine Worte schaffen Bilder in meinem Kopf, die seine Geschichte wie einen Film vor meinen Augen ablaufen lassen. Zumal es hier von Anfang an viel Stoff zum Nachdenken und Spekulieren gab, da Felix eine Truhe findet, die ein verborgenes Leben enthielt und damit mehr Fragen aufwarf als beantwortete. Ich hätte nicht in seiner Haut stecken wollen, da irgendwie alles was er zu wissen glaubte spontan in einem anderen Licht erschien.

Mich habe vor allem die Briefe berührt, die Felix las und welche ihn auf eine Reise in die Vergangenheit schickten. Für mein Empfinden waren sie melancholisch und ich habe die Zeit in der sein Vater lebte verflucht und gehasst. Eine Zeit, in der freies Leben und Lieben nur für einen Teil der Gesellschaft vorgesehen und möglich war, während ein anderer Teil verfolgt, bedroht und bestraft wurde für Dinge, die nicht beeinflussbar oder steuerbar sind, sondern menschlich, normal und gleichwertig. Mich regt das heute noch stellvertretend auf… Nicht, dass unsere Zeit heute perfekt ist, denn davon sind wir noch Lichtjahre entfernt, aber einiges ist doch einfacher geworden. Ich schweife schon wieder ab… Sorry.

Wer Bücher von Jan Stressenreuter kennt, weiß um ihre wunderbaren Worte, ihre leisen Töne und ihre Schockmomente. In diesem Buch gibt es all das, was die Geschichte um Felix‘ Vater und die Suche danach, noch intensiver macht. Es kommen Menschen zu Wort, denen die Vergangenheit noch sehr klar vor Augen steht und die die Ereignisse weder vergessen, noch verarbeitet haben. Ich liebe an seinen Büchern vor allem die Tatsache, dass all das genau so hätte passiert sein können.

Es gibt kein künstlich herbeigeführtes Drama, sondern menschliche Tragödien, wie sie überall zu jeder Zeit auf dieser Erde passierten und passieren. Keine kleinen verschreckten Jungs, die weder wissen wer sie sind, noch wohin sie gehen, sondern erwachsene Männer, die im Leben stehen und durch unfassbare Umstände aus diesem herausgerissen werden. Auch wenn dieses Leben von Lügen, (Selbst-)Verleugnungen, Verrat und Angst geprägt ist, gibt es doch hin und wieder lichtvolle Momente. Aber sie sind rar… Präsenter sind die Momente, in denen die Verzweiflung Raum einnimmt und Handlungen einfordert, die die Menschen nur noch tiefer in ihr versinken lassen, obwohl sie nicht ungetan bleiben konnten. Mich berührten sie sehr und wie immer bei den Büchern des Autors liefen mir die Tränen über die Wangen. Mich schmerzte es, diese Worte zu lesen und das Leid dahinter nachzufühlen. Was aber auch absolut großartig ist, denn nur sehr wenige Schreibende berühren mich mit ihren Worten so sehr, dass ich mich den Protagonisten so verbunden fühle und beinahe glaube sie zu kennen. Ich fühle ihren Schmerz, spüre ihre Verzweiflung und bade in ihren Sehnsüchten und Hoffnungen… Es ist ein Wunder, wenn das in einem Buch passiert… Bücher die solche Emotionen bei mir hervorrufen kann ich an einer Hand abzählen und bin dankbar für jedes einzelne von ihnen.

Ich kann dieses Buch jedem empfehlen, der eine emotionale Geschichte mit lebendigen Charakteren sucht und sich nicht davor scheut, menschlichen Abgründen zu begegnen. In diesem Buch kann man niemanden als „böse“ oder „gut“ bezeichnen, denn alle sind nur Produkte ihrer Zeit und ihrer Lebensumstände. „Mit seinen Augen“ ist ein hochemotionales Buch, das nachdenklich, wütend und traurig macht. Ja, die Zeiten haben sich geändert, aber die Gesellschaft und jede*r Einzelne darf nicht vergessen, wie kostbar die Freiheit ist. Solche Zustände, wie sie in diesem Buch beschrieben werden, diese Ungerechtigkeit, die zu Frustration, Leid, Verleugnung und Schmerz führt, dürfen nie wieder entstehen und zur Normalität werden. Sie zerstören Leben, was inakzeptabel ist. Jeder von uns kann jeden Tag etwas dagegen unternehmen.

Erscheinungsdatum: 3. März 2008 im Quer-Verlag
Seitenzahl Taschenbuch: 333