von Nicolas Lietzau
Klappentext:
Wohin kannst du fliehen, wenn der Feind dein eigener Verstand ist?
In der Hoffnung auf einen Neuanfang folgt der Ex-Söldner Jespar Dal’Varek einer geheimnisvollen Einladung ins malerische Inselreich Kilay. Doch die tropische Idylle trügt: Geplagt von gesellschaftlicher Ungleichheit und radikalen Revolutionären, steuert das Reich auf einen Bürgerkrieg zu. Einzig Kilays mächtigster Magnat Jaaros Oonai könnte die Katastrophe noch abwenden, doch er ist in ein rätselhaftes Koma gefallen. Die Suche nach der Ursache führt Jespar nicht nur quer über den Archipel, in ein Netz aus Intrigen und buchstäblich in die Albträume des Magnaten hinein, sie zwingt ihn auch, seinen eigenen Dämonen ins Gesicht zu blicken. Der Kampf um das Schicksal Kilays wird zur Schlacht um Jespars Leben und Verstand, und während die Grenzen zwischen Traum und Realität immer weiter verschwimmen, bleibt nur eine Frage: Wohin kannst du fliehen, wenn der Feind dein eigener Verstand ist?
Träume der Todgeweihten ist eine fesselnde Mischung aus Fantasy, Mystery und psychologischem Horror, die tief in die Abgründe der menschlichen Psyche vordringt.
Cover: © Dominik Derow | Johanna Krünes
Bild: © Buchsüchtig Queerblog
Meine Meinung:
Normalerweise langweilen mich ausschweifende und sehr detaillierte Erklärungen und Beschreibungen zu Tode, hier aber habe ich jedes Wort inhaliert und konnte alles wie einen Film vor mir sehen. Ich bin Jespar auf Schritt und Tritt gefolgt und wäre gerne vorausgeeilt, da ich es kaum erwarten konnte mehr von ihm und der Welt um ihn herum zu erfahren. Alles bekam mit jedem Wort mehr Kontur, leuchtete klarer und wurde mir vertraut. Die Welt um Jespar ist unserer nicht unähnlich, denn auch in seiner kommt man ohne Beziehungen nicht wirklich weiter und es gibt Dinge, die lebensverachtend sind. Auch ist sie bevölkert von den verschiedensten Personen und wie überall gibt es die unterschiedlichsten Charaktere, von denen mir mehr als einer suspekt war. Allen voran Jespar, von dem ich anfangs kein klares Bild vor mir sah. Aber irgendwie mochte ich ihn dennoch und im Laufe des Buches habe ich ihn aus Gründen lieben gelernt, die anderen vielleicht nicht klar sind.
Gemeinsam mit ihm erfuhr ich von vielen weiteren Menschen, die in ein unerklärliches Koma fielen und wir beide fragten uns, woher es kam und was mit ihnen geschehen ist. Der Titel des Buches ließ mich Vermutungen anstellen, die sich aber erstmal nicht bestätigten und mit Lysia lernte ich eine Frau kennen, die ich sofort verstand und die ich auch mochte. Sie ist gutherzig, hilfsbereit, aufopfernd und selbstbewusst. Und mit ihr zusammen habe ich die Umstände gehasst, denen sie sich mit Jespar gegenübersah. Sie blickt sehr klar auf die gesellschaftlichen Missstände ihrer Welt, die in diesen Punkten unserer sehr ähnlich ist. „Gesundheit muss man sich leisten können“ schoss es mir durch den Kopf, als sie half so gut sie konnte und dabei doch nicht den Kampf gewann. Dabei wüsste sie, wie man all den kranken Menschen helfen könnte, aber das ist nicht lukrativ genug. Leben zu erhalten und zu verbessern lohnt sich nicht und wird damit nicht gemacht. Das ist so krank, dass ich brüllen wollte. Und das nicht nur an dieser Stelle des Buches…
Mit jedem Satz verdichteten sich die Parallelen zu unserer Welt. Gier, Angst, Misstrauen, Mut, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, innere Gefängnisse, gesellschaftliche Zwänge… Alles Dinge, die die Menschen im Jetzt und hier genauso lenken wie in diesem Buch. Egal in welcher Welt, egal in welchem Traum, in welcher Dimension, überall werden die Menschen von ihren Gefühlen und Bedürfnissen getrieben. Von ihrer Sorge um die, die sie lieben, von ihrem Willen zu (über-)leben, frei, unabhängig und selbstbestimmt. Und sie werden gefangen gehalten von ihrem Verstand, ihren Seelen, ihren Ängsten, Sorgen, Nöten, Schwächen… Ich habe mich so oft selbst in diesem Buch gefunden… nicht nur in Jespar… auch in Lysia… und selbst in Kawu… Einer der Gründe, warum ich das Buch mit den Gefühlen geschlossen habe, die in diesem Moment unausweichlich waren… Es gibt ein wunderbares Nachwort, welches man keinesfalls ignorieren sollte.
Ich schweife ab. Zurück zu Jespar und dem Chaos, das ihn umgibt. Und nicht nur ihn, sondern auch alle Menschen um ihn herum, denn auf seiner Reise mit Lysia traf er auf verschiedene Menschen, die sich alle irgendwo glichen, obwohl sie grundverschieden sind und über allem hängt das Grauen, das die Jespar und Lysia abzuwehren versuchen. Ich hatte wenig Hoffnung für sie, denn sie kamen mir zwar wild entschlossen und mutig vor, vor allem aber habe ich sie als einsam und verlassen empfunden in dieser Welt, in der scheinbar alles gegen sie arbeitet. Zudem wurde die Situation für alle Beteiligten nur immer auswegloser und die Parallelen zu unserer Welt verdichteten sich immer mehr und mehr, bis sie als dunkel drohendes Tuch über der Geschichte schwebten und anklagend den Finger hoben… Der Lebensunterhalt für die Menschen ist kaum noch zu bestreiten, da wirklich alles besteuert und damit verteuert wird, was nicht ohnehin verboten ist. Hoffnungslosigkeit greift um sich wie eine unheilbare Krankheit und treibt viele Menschen in den Selbstmord, bevor sie verhungern und verdursten müssen. Und unter all diesem Elend brodelt die Wut, wartet nur darauf auszubrechen und alles zu verschlingen. Ich habe den gesellschaftskritischen Aspekt des Buches geliebt, denn die dort beschriebene Frustration innerhalb der Bevölkerung lässt sich genau so in unsere Welt übertragen. Zusammen mit der Resignation, Hoffnungslosigkeit und all den anderen negativen Gefühlen die einen ersticken, wenn man einen aussichtslosen Kampf führt. Hier wie dort werde die Reichen auf Kosten der Ärmeren immer reicher, die Güter sind ungerecht verteilt und die, die den gesamten Staatsapparat am Laufen halten, haben kaum genug zum Überleben, während die, die sie „regieren“ im Überfluss leben, ihren eigentlichen Aufgaben nicht nachkommen und sich faul und träge in ihrem Reichtum suhlen. Ein globales Problem… Hier wie dort…
Im Buch fiel dieser Misstand nicht nur allein Jespar auf, aber seiner Schlussfolgerung, dass sich bestehende Systeme nur als Antwort auf eine Krise ändern (können), habe ich uneingeschränkt zustimmen können, weil er mit dieser beinahe in den Zynismus abdriftete und ich daher seine Worte als sehr klar wahrgenommen habe. Im Gegensatz dazu, kam mir Lysia manchmal etwas verträumt vor. Auch hatte ich den Eindruck, dass er aufgrund seiner Erfahrungen sehr viel besser menschliche Handlungsweisen verstand als Lysia, bei der ich eher den Eindruck hatte, dass sie die Menschen gerne so sieht wie sie sein sollten, es aber nicht sind.
Meiner Meinung nach verband Lysia und Jespar eine eigenwillige Beziehung. Sie sind sich so nah, dass sie sich gegenseitig die Wahrheit sagen können, einander klar und deutlich sehen und sie nichts voreinander verstecken können. Sie können sich gegenseitig auch mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren und trotzdem wertschätzen. Ihre Gespräche, in denen es sich häufig um ihr Inneres drehte, habe ich geliebt. An eine Stelle im Buch, etwa bei 36 % sah ich den queeren Unterton, denn mehr war es bis dahin nicht, flöten gehen und wollte das Buch schon abbrechen. Lustigerweise war mein Grund das Buch abbrechen zu wollen auch der, der mich dann doch weiterlesen ließ und so hoffte ich einfach, dass das Buch nicht in eine Heteroliebesschnulze abdriften würde, obwohl an diesem Punkt wirklich alles dafür sprach.
Mit Kawu traf Jespar auf jemanden, mit dem ihn für mein Empfinden eine wundervolle Beziehung verband. Beide schwanken zwischen voranstürmen, zurückziehen, fortstoßen, Nähe suchen… Es war ein wenig kompliziert und ich habe es geliebt wie sie zwischen vorsichtigem Annähern und todesmutigem Sprung ins Unbekannte irgendwie ihren Weg fanden sich doch sehr vorsichtig anzunähern. Ein winziger Lichtpunkt inmitten der Chaos und all der Probleme die Jespars Erkrankung, die Suche nach deren Heilung und die gesamte Reise, mit sich bringen. Überhaupt habe ich Kawu wahnsinnig geliebt. Seine Stärke, Feinfühligkeit, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit sind beispiellos. Für mich ist er der wahre Held der Geschichte, denn ohne ihn wäre Jespar nicht in der Lage gewesen zu tun, was er getan hat. Ohne ihn wäre auch Lysia keinen Schritt weitergekommen, denn ohne ihn hätte nichts von dem funktioniert, was für den weiteren Verlauf der Geschichte so dringend notwendig war. In meinen Augen ist er die wichtigste Person in diesem Buch. Und er brach mir an mehr als einer Stelle das Herz…
Was ich an diesem Buch sehr geliebt habe, sind die sozialkritischen Untertöne. Sie werden dem/der Lesenden von Seiten des Autors nicht mit Gewalt um die Ohren gehauen und auch nicht mit dem erhobenen Zeigefinger präsentiert, vielmehr schleichen sie sich geschickt und elegant ein, setzen sich fest und wirken nach. Da ich mit vielen dieser Aussagen konform gehe konnte ich gar nicht anders, als die Protagonisten und Protagonistinnen die sie vertraten, zu lieben. Vor allem, da in diesem Buch Dinge thematisiert wurden, die uns alle betreffen und denen sich niemand entziehen kann, selbst wenn er/sie es will.
Aber am meisten liebe ich die inneren Kämpfe in diesem Buch. Die Schlachten gegen sich selbst sind die größten Herausforderungen, denen sich ein Mensch nur stellen kann, denn es geht vor allem um den Willen. Um Stärke und Mut, die man in sich selbst finden muss um den Kampf aufzunehmen und zu führen. Der erste Schritt und einige danach kann man nur allein gehen, während man später Unterstützung und Hilfe annehmen kann. Aber an sich zeigte mir das Buch nur einmal mehr, dass wir alle allein sind. Allein mit unseren inneren Dämonen. Allein mit unseren Ängsten, (Alb-)Träumen, Sorgen, Problemen, Gefühlen… Allein mit allem, was darauf aufbaut…
Wenn Ihr meine Gedanken zu diesem Buch bis hierher gelesen habt, danke ich Euch schon einmal. An sich lässt sich meine Reise mit Jespar nur schlecht beschreiben und es fühlt sich an, als wenn ich Tönen eine Farbe zuordnen soll… Ich kann es nicht so machen, dass es für andere verständlich ist und habe es trotzdem versucht. Lasst Euch nicht von der Seitenzahl abschrecken und macht euch auf eine unendlich intensive Reise gefasst auf der es sehr viel Stoff zum Nachdenken gibt, auf der ihr vielleicht euch selbst begegnet wenn Ihr es zulasst. Hier tun sich menschliche Abgründe auf und die Grenzen zwischen dem was man gemeinhin als „Gut“ und „Böse“ definiert, sind sehr flexibel. Es gibt immer mindestens zwei Seiten. Bei Menschen, ihren Überzeugungen… Nichts ist in Stein gemeißelt und Menschen sind in ihrer Schwäche so stark, wie sie in ihrer Stärke schwach sind. Ich warte ungeduldig auf den zweiten Band und will unbedingt wissen wie es weitergeht. Von mir eine ganz klare Leseempfehlung. Nichts für Zartbesaitete, die gerne watteweiche und verträumte Geschichten lesen, obwohl gerade Träume in diesem Buch eine wahnsinnig wichtige Rolle spielen, und auch nichts für Menschen, die gesteigerten Wert auf Romantik legen. Denn diese kommt zwar vor und ist auch wichtig, spielt hier aber eine völlig andere Rolle, als man es erwarten könnte. Gerade zum Ende des Buches wird das nochmal sehr deutlich.
Im Klappentext wird das Buch mit den Worten »eine fesselnde Mischung aus Fantasy, Mystery und psychologischem Horror, die tief in die Abgründe der menschlichen Psyche vordringt« beschrieben. Das waren die Worte, die mich dazu brachten das Buch zu lesen und ich stimme ihnen bedingungslos zu. Mich hat das Buch begeistert, ich habe bekommen was ich mir erhofft hatte und ich konnte mich kaum trennen.
Erscheinungsdatum: 10. Mai 2022
Seitenzahl Hardcoverausgabe: 890